BVM zum Siebzigsten: „Uns treibt die Neugier“ – ein Beitrag von Christian Thunig in Planung & Analyse von Horizont
horizont.net: Kaum zu glauben – Der BVM Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V. feiert in diesem Monat seinen 70. Geburtstag. Ein Rückblick auf sieben Jahrzehnte, in denen der Verband viel bewegt hat.
Der VBM schaltet sich in den Folgejahren auch in öffentliche Diskussionen ein. So gibt es Anfang 1964 eine außerordentliche Mitgliederversammlung, weil in der Zeitschrift Stern eine viel beachtete „Umfrage in die Intimsphäre“ erschienen ist. Das Problem: Der Artikel verschweigt, wie die Ergebnisse zustande kamen und wer sie erhoben hat. Der Verband schlägt daher vor, dass bei Presseveröffentlichungen bestimmte Mindestangaben über Urheber und Methode von Studien gemacht werden müssen. Die Redaktionen nehmen die Empfehlung an und befolgen sie, im Großen und Ganzen, bis heute.
Aus dem VBM wird 1965 in Frankfurt der Bundesverband Deutscher Marktforscher (BVM) in seiner heutigen Ausrichtung. Vorausgegangen ist die Integration von zwei weiteren Organisationen: einem Verband für alle Einzelpersonen in der Marktforschung und einem Berufsverband, der das Berufsbild der Marktforscher pflegt. All das soll nun der BVM unter einem Dach abdecken. Die Agenda ist umfangreich: Interessenvertretung der Marktforschung, Imagepflege, Ausbildungsförderung, Weiterbildungsangebote und Aufsicht über die „ehrenhafte Berufs8ausübung“. Der BVM wächst nun schnell: 1966 gibt es schon sechs Regionalgruppen.
Die Marktforschung bekommt in dieser Zeit einen weiteren Schub: Der Mangel der Nachkriegszeit ist vorüber, die Verkäufer- werden zu Käufermärkten, das moderne Marketing entsteht. Gleichzeitig erweitert sich das methodische Instrumentarium um psychologische und qualitative Marktforschung. Der BVM sorgt dafür, dass die Qualitätssicherung nicht zu kurz kommt. 1967 wird ein Ausschuss für Berufsgrundsätze gegründet, der Standards entwickelt und ethische und praktische Arbeitsprinzipien formuliert. 1971 nehmen BVM und ADM den „Internationalen Codex für die Marketingforschung“ von Esomar und der Internationalen Handelskammer (ICC) an, der damit in der Bundesrepublik gültig wird. Die beiden deutschen Verbände arbeiten danach an Aktualisierungen des Kodex mit.
Der BVM baut nun seine Strukturen und Angebote konsequent aus. 1972 wird die erste BVM-Geschäftsstelle in Hamburg eingerichtet. Neben den jährlichen Kongressen gibt es ein umfangreiches Seminarprogramm, Fernlehrgänge, einen Infodienst für die Mitglieder und 1978 das erste „Handbuch der Marktforschungsinstitute und -berater“. Im selben Jahr wird der erste Fachbeirat gewählt. Thematisch geht es nun vor allem um Modelle, Methoden und die Integration von Daten aus verschiedenen Umfragen. Der BVM erhebt seine Stimme auch 1974 in der Diskussion um das neue Bundesdatenschutzgesetz. Der Entwurf sieht vor, von der Marktforschung eine „Unterschriftserklärung“ der Befragten zu verlangen, was die Befragungen deutlich erschweren würde. Der BVM meldet seine Bedenken an, die akzeptiert werden: Das Ausfüllen eines Fragebogens oder das telefonische Beantworten von Fragen reichen als Einverständnis für die Datenverarbeitung aus. Das Gesetz tritt 1979 entsprechend in Kraft.
Die Marktforschungslandschaft fächert sich in den folgenden Jahrzehnten weiter auf. Die Institute lagern Dienstleistungen wie die Feldforschung an externe Dienstleister aus. Zusätzlich zu persönlichen und postalischen Befragungen kommen CATI-Erhebungen hinzu. Die Marktforschung wird internationaler, globale Konzerne wie Ipsos gewinnen an Bedeutung. Der BVM stellt sich breiter auf: 1980 wird der Name in Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V. geändert, die noch heute gültige Bezeichnung. Gleichzeitig öffnet man sich für Firmen- und Junior-Mitgliedschaften. Später werden Angebote für Studenten und für Personen folgen, die nur in Teilbereichen in der Marktforschung tätig sind.
Neuen Forschungsbedarf bringt 1990 die Wiedervereinigung. Auch der BVM engagiert sich in den neuen Bundesländern. 1994 zählt er bereits elf Regionalgruppen und über 800 Mitglieder. Zu diesem Zeitpunkt deutet sich langsam, aber sicher eine Entwicklung an, die die gesamte Marktforschung verändern wird: der Siegeszug des Internets. Online-Befragungen, Online-Panels und weitere digitale Methoden rufen neuartige Dienstleister wie Globalpark oder Dialego auf den Plan. Sie bekommen 1998 mit der Deutschen Gesellschaft für Online-Forschung (DGOF) ihre eigene Interessenvertretung.
Nach 2000 dreht sich alles um die digitale Transformation und die Auswirkungen des Internets auf die Gesellschaft. Vielen gestandenen Forschern ist die Euphorie suspekt: Sie kritisieren unter anderem die mangelnde Repräsentativität von Online-Umfragen und methodische Intransparenz.
Der BVM, seit 2002 mit seiner Geschäftsstelle in Berlin ansässig, bemüht sich um eine ausgewogene Perspektive. Auf der einen Seite regt er seine Mitglieder an, die neuen Möglichkeiten zu entdecken, Innovationen zu testen und Ideen auszutauschen. Auf der anderen Seite sorgt er dafür, dass die qualitativen Ansprüche der Marktforschung und das bewährte Berufsbild erhalten bleiben. Um auf Missstände zu reagieren, gründet er 2001 mit dem ADM und der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute (ASI) eine gemeinsame Marktforschungsschiedsstelle. Für herausragende Leistungen vergibt der BVM ab 2005 den Preis der Deutschen Marktforschung.
Die Dynamik der Digitalisierung steigert sich in den 2010er Jahren noch einmal. Mobile Kommunikation, Social Media, Hirnforschung und Big Data bringen völlig neue Perspektiven in die Forschung. Mit Online-Access-Panels, Social Listening und Data Analytics verändert sich das Berufsbild des Marktforschers dramatisch: Neben Forschern, die Primärerhebungen durchführen, sind nun zunehmend Fachleute mit IT- und Analysekenntnissen gefragt. Gleichzeitig versprechen die Anbieter von DIY-Plattformen eine Marktforschung, die für jedermann zu Dumping-Preisen zugänglich ist.
Der BVM reagiert auf die Entwicklungen unter anderem mit der neuen Fachgruppe Data Science, die 2015 für Daten-Analysten und IT-Spezialisten gegründet wird. Darüber hinaus beschäftigt sich die Fachgruppe NEON mit Themen wie Social Media Research, Big Data, Analytics, Gamification, Crowdsourcing, Co-Creation, Automatisierung und vor allem Künstliche Intelligenz.
Der Verband setzt sich auch mit der Frage auseinander, welchen Stellenwert die Daten-Ökonomie für die Marktforschung und ihren Qualitätsanspruch hat. Er formuliert neue Leitfäden für qualitativ hochwertige und erfolgreiche Marktforschung. 2013 führt er das Signet „Marktforscher BVM“ für Mitglieder ein, die in der Berufsrolle eingetragen sind. 2018 startet er die Qualitätsoffensive „RESPECT – Das Branchenversprechen des BVM“ – gleichzeitig Leitlinie und Bekenntnis zu höchster Qualität in der Forschung. Die Bemühungen sind notwendig, denn die Marktforschung wird regelmäßig wegen dubioser Praktiken von „schwarzen Schafen“ kritisiert, unter anderem vom Spiegel mit der Artikelserie „Die Akte Marktforschung“.
Die Corona-Pandemie ab 2020 stellt den Verband vor die Herausforderung, die eigene Digitalisierung voranzutreiben und seine mehr als 1000 Mitglieder mit virtuellen Kommunikations- und Event-Formaten zu versorgen. Es folgen weitere Krisen, die die gesamte Branche wirtschaftlich stark unter Druck setzen. In den Fokus des BVM rückt das Thema Nachhaltigkeit – sowohl in der Forschung als auch in der Unternehmungsführung der Institute. Aber für die stärksten Impulse sorgt ab 2022 die Generative KI: Wie viel Arbeit wird sie dem Marktforscher künftig abnehmen – und wo bleibt der Mensch unverzichtbar? Für den Verband ein spannendes Thema: „Uns treibt die Neugier“, sagt Frank Knapp, Vorstandsvorsitzender des BVM. „Und das wird auch so bleiben.“