marktforschung.de: Am 14. Juni findet in Frankfurt der BVM-Kongress statt. Wir sprachen mit BVM-Vorstand Christian Thunig über die wichtigsten Veränderungen bei der Veranstaltung, die Wahl der Keynote-Speakerinnen und die Fortführung des Preis der Forscherpersönlichkeit des Jahres.
Was sind die größten Veränderungen beim diesjährigen BVM-Kongress?
Christian Thunig: Wir sind kompakter geworden. In Zeiten hoher Arbeitsdichte ist es unrealistisch, Teilnehmende mehrere Tage vom Schreibtisch zu holen. Daher haben wir beschlossen, den Kongress mit Get Together und Mitgliederversammlung auf insgesamt zwei Tage zu kondensieren.
Drei von vier Keynotes auf dem BVM-Kongress werden von weiblichen Referentinnen gehalten. War das eine bewusste Entscheidung oder kam das eher zufällig zustande?
Christian Thunig: Nein, das war tatsächlich eine bewusste Entscheidung. Uns hat zwar im letzten Jahr zum Glück keine Kritik erreicht, aber es war beim letzten Kongress hinsichtlich Keynotes etwas „männerlastig“. Das wollten wir diesmal gezielt umkehren.
Das Ergebnis sind spannende Rederinnen. Die Physikerin und Datenexpertin Teresa Kubacka halte ich hier für eine Entdeckung. Sie hatte schon sehr früh ChatGPT öffentlich als nicht sicher eingestuft. Ihre Begründung: Die KI, die ChatGPT antreibt – ein Modell aus der Familie der Large Language Models (LLMs) – ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, wahrheitsgetreu und sicher in der Anwendung zu machen. Sie wird sicherlich für unsere Branche noch sehr wichtig werden.
Welche Impulse an die Branche sollen vom Kongress ausgehen?
Christian Thunig: Daten sind scheinbar in großen Mengen vorhanden. Und wie immer, wenn etwas umfangreich vorliegt, geht Sorgfalt und Zuwendung verloren. Das hat verschiedene Dimensionen: Zum einen wird möglicherweise zu wenig geprüft, woher Datenströme stammen.
Wir haben ja zum Teil schon die „Besoffenheit“ erlebt, die sich aus der neuen schönen Datenwelt ergibt.
Zum anderen besteht so natürlich die Gefahr, falsche Wirklichkeiten abzubilden. Wir müssen als Marktforschende immer die Quellen und Herkunft von Daten im Blick behalten. Hier haben wir eine wichtige Verantwortung auch für die Gesellschaft. Das Feld sauber zu sortieren, darum wird es insbesondere auch beim Kongress gehen.
Es wird erstmals ein neuer Preis verliehen: „Persönlichkeit des Jahres 2023“. Oder ist das die Fortsetzung der „Forscherpersönlichkeit des Jahres“, ein Preis, der früher vom BVM verliehen wurde?
Christian Thunig: Das ist in der Tat kein neuer Preis, sondern die Fortsetzung der Forscherpersönlichkeit des Jahres, auch wenn die aktuellen Preisträger nicht unmittelbar aus unserer Branche kommen. Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling sind dennoch ein wertvolles Vorbild für uns.
Das Buch „Factfulness“, an dem Anna Rosling Rönnlund mitgeschrieben hat, ist bereits 2018 erschienen. Warum wird sie erst jetzt dafür ausgezeichnet?
Christian Thunig: Weil sie nicht für das Buch ausgezeichnet werden, sondern für ihr unermüdliches Wirken. Mit dem Buch haben sie auf sich aufmerksam gemacht. Es wurde weltweit gelesen, und insbesondere viele Marktforschende kennen es. Aber durch ihre tägliche Arbeit in der von ihnen gegründeten Gapminder-Stiftung und ihre Methode der interaktiven Datenvisualisierung versuchen sie permanent, komplexe Informationen auf eine anschauliche und verständliche Weise zu präsentieren. Sie wollen dabei mit anekdotischem Halbwissen aufräumen und tragen daher Zahlen zur Entwicklung der Gesellschaft zusammen und stellen diese verständlich dar – die vornehmste Aufgabe des Researchers.
Warum sollten sich Marktforschende, die noch kein Ticket haben, noch kurzfristig auf den Weg nach Frankfurt machen?
Christian Thunig: Wir haben ein drängendes Thema, was Betriebliche wie Institute sehr beschäftigt. Es gibt wie erwähnt heute eine Vielzahl an Quellen, die berücksichtigt werden können oder sogar müssen. Zur Auswahl stehen unter anderem befragungsbasierte Quellen, passive Verhaltensdaten, die Nutzung von Daten von bereits durchgeführten Studien als Trainingsdatenbanken für Künstliche Intelligenz oder frei verfügbare statistische Informationen. Dies alles macht den eignen Wirkungskreis der Markt- und Sozialforschung zum Eldorado der Daten. Das ist aber auch genau Teil der Herausforderung:
Die Vielzahl der Möglichkeiten des Datenschürfens erfordert noch mehr Überblick und Orientierung bis hin zu Themen wie wer in Organisationen die Deutungshoheit über die Daten hat oder wer die Informationen und Quellen ordnet und bewertet.
Ich denke, der Kongress ist daher Pflichtprogramm.
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